Als optimistische Melancholiker beschreiben sich Johannes Enders und Rainer Böhm. Romantisch und gefühlvoll nennen Sie ihre im akustischen Duo eingespielte Musik. Beide kennen sich lange, beide lehren heute als Professoren ihrer Instrumente, beide haben vor gut anderthalb Jahrzehnten schon einmal im Duo aufgenommen und sind sich seither immer wieder begegnet. Saxofonist Enders schätzt am Pianisten Böhm, dass er es trotz aller Virtuosität nicht verlernt hat, dem Gesamtbild zu dienen. Er muss mit seinem Instrument nicht die Führung übernehmen, sondern kann auch dem anderen die Richtung überlassen. „Ich bin die Melodie und er ist das Orchester“, fasst Johannes Enders zusammen.
Zwei Tage haben sie gebraucht für diese wunderbar magischen Dialoge in Musik, einen zum Proben, damit der eine die jeweils neuen Stücke des anderen kennenlernte, dann sechs Stunden im Münchner Studio. Nichts vom Material wurde vorher im Touralltag zur Routine entindividualisiert. Handgemachte Musik aus dem Moment hört man, keine falschen Tricks, keine doppelten Böden, alles naturbelassen, erdig, frisch und eben nicht super perfekt bis zur Sterilität: „Wir wollten nichts, wir haben einfach nur gemacht.“ Immer neue Türen gehen auf bei „Kokoro“ für den, der das Zuhören noch nicht verlernt hat. Musik, die nicht eifert, posiert oder überrumpeln will, Musik, die ihre Wurzeln kennt und von da aufbricht, geschmackssicher und unaufgeregt. Zwei, die sich aufeinander verlassen können, sind hier ganz und gar bei sich in einer erworbenen Souveränität, mit der im Rücken sie das Staunen nicht verlernt haben und das Gespür für Feinheiten.
Keiner der beiden muss seine ausgefeilte Technik vor sich hertragen. In Rainer Böhms Spiel sind Genreüberschreitungen vom Jazz hin zur Klassik immanent. Transfer von Beseeltheit ist ihm wichtig in seinem aufgerauten Wohlklang, der auf rhythmische Stringenz setzt und auf melodische Fantasie. Feinsinnig wird die durchgehende Empfindsamkeit nie banalisiert. Darin ist er ein Meister wie Johannes Enders, der in melancholischen Grundstimmungen auch einen Prozess des Abschiednehmens eingeschrieben sieht. Den begreift er als Voraussetzung für Veränderung und Entwicklung. Die Verarbeitung dieser Prozesse erzeugt Optimismus. Insofern ist „Kokoro“ eine Frühlingsplatte, die Hoffnung machen will.
Deswegen auch das Coverbild mit den Kirschblüten aus Tokio. Es stammt aus dem Enders’schen Familienfundus, aus der Postkartensammlung einer verstorbenen Tante nämlich, die von einem Verehrer Nachrichten aus aller Welt bekam. Darum wurde aus Böhms Eingangsstück, das ursprünglich „Rokoko“ hieß, „Kokoro“, was nun der Platte ihren Titel gibt und japanisch Herz bedeutet. So hängt in dieser Musik alles mit allem zusammen. Die Entstehungsmonatskürzel „Tober“ und „Tember“, was auch wie Timbre klingen kann, das Birdhouse, in dem Charlie Parker irrlichtert, die „Nachzeit“, die kommen wird wie ein Synonym für Frühling, und das Bekenntnis zum Swing, weil man das ohne Wenn und Aber mal festhalten muss.
Swing bedeutet Elastizität, Belebtheit und die Fähigkeit zu fliegen. Swing ist die Voraussetzung. Johannes Enders und Rainer Böhm sind exponierte Vertreter der mittleren Generation des deutschen Jazz. Die siedelt zwischen den Jungen, die ihren Weg noch finden müssen, und den Alten, die angekommen sind und ihren Stil konsolidiert haben. Die mittlere Generation ist unterwegs – in den besten Fällen. Das Duo Enders/Böhm ist so ein bester Fall.
Ihre so markant und ausgewogen in sich ruhende Musik steht für eine Rückbesinnung auf Heroen wie Lester Young und Stan Getz, die aber nicht kopiert, sondern weitergedacht werden. Amerikanische Ahnen werden in europäische Kontexte transformiert. Es geht um die eigenen Geschichten. Johannes Enders und Rainer Böhm schicken geradezu atemnehmende Unisono-Passagen los und entwickeln in einem furiosen Miteinander voller exquisitem Understatement ihre Ideen. Ihre Kunst entspringt aus keinem Wettbewerb, ersetzt das kompetitive Muskelspiel durch feinsinnig subtile Ausgewogenheit, den Schrei durch den Atem und den Eifer durch das Raffinement.
Ulrich Steinmetzger